Am 13. Oktober fand zum wiederholten Mal eine „identitäre Zone“ der neofaschistischen Identitären Bewegung Österreich in der Wiener Innenstadt statt. Wie in der Vergangenheit wurde auch diese Aktion von zahlreichen Antifaschist_innen nicht unwidersprochen hingenommen, es fand spontan eine kurze Gegendemonstration statt. Die Antifaschist_innen wurden von der Polizei abgedrängt und ein Teil beim Weggehen eingekesselt. Es kam zu zwei Festnahmen und zahlreichen Identitätsfeststellungen.
Gegen eine der festgenommenen Personen fand am 11. Januar 2019 ein Prozess wegen zweimaligem versuchten Widerstand gegen die Staatsgewalt, sowie versuchter und vollendeter schwerer Körperverletzung an einem Polizisten statt. Insgesamt standen also vier strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen eine Person im Raum. Der Beschuldigte soll bei der Kundgebung einen abgebrochenen Schirm auf einen Polizisten geworfen und ihn somit zu verletzen versucht haben. Später soll er sich bei einer Einkesselung seiner Anhaltung widersetzt und dabei einen Polizisten zu Boden gestoßen und dadurch verletzt haben.
Die Verhandlung wurde auf den 15. März vertagt, um weitere Zeug_innen zu laden.
Am ersten Verhandlungstag sagte der Beschuldigte aus – er habe keinen Schirm geworfen und sich bei seiner Anhaltung nicht bewusst gewehrt. Zum genauen Ablauf der Anhaltung konnte er nichts sagen, seinen Angaben nach sei alles sehr schnell gegangen und er sei von hinten zu Boden gerissen worden.
Die Verteidigung legte ein Video von der antifaschistischen Demonstration vor, auf dem der Schirmwurf auf den Beamten zu sehen war. Es war nicht ersichtlich wer den Schirm geworfen hat, aber der Beschuldigte war während dem Wurf zu sehen, wie er ruhig in der Demo stand.
Der Polizist, auf den der Schirm angeblich geworfen wurde, sagte aus, dass er den Angeklagten eindeutig identifizieren habe können. In blumiger Sprache schilderte er detailreich, wie er den Angeklagten beobachtet habe, warum er sich ganz sicher sei, dass er den Schirm geworfen habe und wie die Antifaschist_innen als schwarz-vermummte aggressive Horde eingefallen sei. Seiner Aussage nach wäre der am Video zu sehende Schirmwurf nicht derselbe, der angeklagt war. Der Schirmwurf, der auf ihn gezielt hätte, wäre auf dem Video nicht zu sehen.
Der Polizist, der bei der Anhaltung angeblich verletzt wurde, bestätigte die Aussage von den angeblich aggressiven Antifaschist_innen, die angeblich zu den Identitären durchbrechen wollten, sowie die Version, dass das Video einen anderen Schirmwurf zeigen würde.
Zu der Anhaltung könne er sich an nicht so viele Details erinnern – sicher sei er nur, dass der Angeklagte ihn mit einem wuchtigen Stoß zu Boden befördert habe und sich auch dort massiv gewehrt habe.
Er schloss sich als Privatbeteiligter dem Verfahren mit einer Schmerzensgeldforderung an.
Ein weiterer Polizist, der zu der Anhaltung dazu gekommen sei, konnte auch davon berichten wie aggressiv und turbulent die ganze Situation war und wie massiv sich der Angeklagte gewehrt hätte.
Am zweiten Verhandlungstag wurden von der Verteidigung vorgelegte Videos abgespielt. Diese Videos stammten vom LVT, wurden jedoch von dieser Seite nie eingebracht (!), sondern durch Akteneinsicht von der Verteidigung entdeckt und zu Verfügung gestellt. Sie zeigten sowohl den Schirmwurf und dass der Angeklagte den Schirm nicht geworfen haben kann als auch, dass zahlreiche Aussagen der beiden am ersten Verhandlungstag einvernommenen Polizisten nicht den Tatsachen entsprachen. Sowohl das Verhalten des Angeklagten, als auch der Charakter der Demonstration waren grundlegend anders, als von den beiden Beamten geschildert.
Bevor die Videos abgespielt wurden, wurden die beiden anwesenden Mitarbeiter des LVT einvernommen – sie wurden spontan beantragt und befragt ob sie Kenntnisse zu den Videos oder anderen Ermittlungsergebnissen hätten. Beide gaben an dazu nichts zu wissen, sie seien lediglich zur Saalsicherung vor Ort.
Danach wurde eine Zeugin einvernommen, die mit dem Angeklagten auf der Demonstration war. Nachdem gegen sie gerade wegen Verdacht auf Störung bzw. Sprengung einer Versammlung ermittelt wird, entschlug sie sich in Teilen der Aussage. Sie konnte bestätigen, dass der Angeklagte die meiste Zeit in ihrer Nähe gewesen sei und mit Sicherheit keinen Schirm geworfen habe.
Als zweiter Zeuge der Verteidigung wurde ein Journalist einvernommen. Er hatte das erste von der Verteidigung vorgelegte Video angefertigt und sagte zur Authentizität des Videos sowie zum Charakter der Demonstration aus. Zur Anhaltung konnte er genauso wie die erste Zeugin nichts sagen.
In seinem Schlussplädoyer strich der Anwalt des Beschuldigten nochmals die Bedeutung der vorgelegten Videos des LVT heraus und wie sehr diese einerseits den Angeklagten entlasten und andererseits die Aussagen und damit die Glaubwürdigkeit der einvernommenen Beamte_innen erschüttern würden. Außerdem sei es richtig gegen Neofaschist_innen zu demonstrieren und zwar gerade auch in Nähe ihrer Veranstaltungen – die Richterin hatte nämlich am ersten Verhandlungstag kritisiert, dass die Gegendemo in räumlicher Nähe zu den Neofaschist_innen stattfand.
Die Staatsanwältin war in Anbetracht der durch die Videos widerlegten Aussagen der Polizist_innen sehr verhalten und hielt entsprechend ihr Plädoyer sehr kurz.
Die Richterin sprach den Angeklagten von allen Vorwürfen frei. Bei dem Schirmwurf wäre durch die Videos zweifelsfrei widerlegt, dass der Beschuldigte diesen geworfen habe. Sie lobte die Verteidigung, dass diese die Videos aufgetrieben habe, da diese für die Wahrheitsfindung enorm wichtig gewesen wären. (Anmerkung: die Videos waren in Besitz der Polizei welche sie nicht ins Verfahren eingebracht hat!)
Sie führte weiter aus, dass die durch die Videos belegte Realität so stark von der Erinnerung der Polizist_innen abweiche und dies zeige nur wie unzuverlässig das Gedächtnis oft funktionieren würde. Nachdem der genaue Hergang bei der Anhaltung nicht geklärt sei (wer wen genau im allgemeinen Tumult gestoßen – oder eben auch nicht gestoßen habe etc.), könne dem Angeklagten kein Widerstand und auch keine Körperverletzung nachgewiesen werden und somit ein Freispruch im Zweifel gefällt werden.